Und wann hat das eigentlich angefangen? Das mit der Abwertung von Schulabschlüssen, die nicht mit dem Abitur enden. Das mit der Panik, dass aus den Kindern nichts wird, wenn sie einen Realschulabschluss machen. Oder einen Hauptschulabschluss oder einfach irgendeinen. Wann hat das angefangen, dass die Menschen denken, dass mit dem Abitur in der Tasche alles gut wird? Der Weg bis hin zu diesem hoch gehangenen Schulfinale ist für nicht Wenige ein sehr harter, steiniger, mit Kämpfen durchzogener Weg. Der unglaublich viel Kraft kostet. Der Hobbys frisst und die Freude am Lernen.
Als Lehrerin in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie sehe ich tagtäglich, dass sich junge Menschen diesem Druck nicht mehr aussetzen möchten. Sie wollen sich das Leben nehmen. Sie wollen sterben. Sie haben Selbstmordgedanken, mal konkret und mal nicht. Sie haben schon einen oder mehrer Versuche hinter sich, aus diesem Leben zu gehen. Weil die Schule nicht mehr zu bewältigen ist. Die Schule!
In mir brodelt es. Es ist kaum in Worte zu fassen, welch ein Leid von diesem Druck ausgeht, dem einige junge Menschen ausgesetzt sind. Sei es von elterlicher Seite oder durch das bevorstehende Zeugnis. Sei es durch eigens gesetzte Ziele, weil man denkt, mit Abitur stehen alle Türen offen und alles „drunter“ sei kurz vor Hartz IV. Woher kommt das? Wann hat sich das so ins Negative gewandelt?
Warum kann man die wunderbar unterschiedlich begabten Menschen nicht in ihren Lernmöglichkeiten fördern? Jeder Abschluss ist ein Zeugnis dessen, dass gearbeitet wurde. Gepaukt und gebüffelt. Mal mehr und mal weniger. Jeder Abschluss ist im Rahmen der Möglichkeiten dieses Absolventen und dieser Absolventin ein deutliches „Ja, schaut. Ich kann was.“ Wie wunderbar es wäre, wenn das anerkannt würde. Von den Eltern, den Tanten und Opas. Von den zukünftigen Ausbilder*innen. Von der Gesellschaft. Von den Schüler*innen selber.
Es sitzen jungen Menschen in meiner Klasse, die auf das Gymnasium gehen und sagen, sie gehen auf das „Genasium“. Sie wissen, nicht, was eine „Meise“ ist. Geschweige denn, wie viele Bundesländer Deutschland hat. Sie fragen mich, was denn nochmal dieser „Akkesatief“ bedeutet und erzählen mir, dass sie unbedingt Medizin studieren wollen. Gleichzeitig sind diese Menschen in anderen Dingen wunderbar begabt. Die eine Schülerin flechtet ihren Mitpatientinnen die Haare wie eine Profi. Die andere Schülerin zeichnet so toll, dass alle denken, das Portrait sei ein Foto. Noch wieder einer singt, als ob er ausgebildet darin sei. Aber nein. diese Menschen bekommen immer wieder deutlich gezeigt, dass sie versagen. Dass sie nicht in die Schulform passen. Dass sie vielleicht faul sind. Dass die Zukunft mit den Noten echt schlecht aussieht.
Wenn ich diesen Schüler*innen (und oft auch den Eltern) dann empfehle, die Schulform zu wechseln, bricht für sie eine Welt zusammen. Aber zeitgleich erkenne ich Erleichterung in den Gesichtern der Patient*innen. Dass es jetzt endlich angesprochen wurde, ist wie eine kleine Offenbarung, Nichts muss mehr überspielt werden. Keine Ausreden mehr gesucht werden. Jetzt ist es gesagt und raus.
All das müsste nicht sein: kein Selbstmordgedanke oder -versuch „wegen der Schule“, keine Versagensängste und keine andauernden Niederlagen, wenn eine Klassenarbeit zurück gegeben wird. All das müsste nicht sein, wenn wir uns alle darauf besinnen, dass jeder Mensch im Rahmen seiner Möglichkeiten das Beste gibt, um auch in Zukunft gut mit sich und anderen leben zu können. Was viele offenbar nicht wissen: für die wahnsinnig grosse Vielfalt gibt es verschiedene Abschlüsse, Berufe, Massnahmen.
Wir müssen anfangen, all das anzuerkennen und Wert zu schätzen. Dem Abitur weniger Aufmerksamkeit schenken und mehr der einzelnen Leistung im Rahmen der Möglichkeiten. Junge Leute darin bestärken, dass es verschiedene Wege ins Glück gibt. Dies ist nicht nur ein Appell an Väter und Mütter, Lehrerinnen und Lehrer, Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Es muss sich in der Gesellschaft einiges tun, damit ich irgendwann nie wieder junge Leute unterrichten muss, die wegen Schule sterben wollen.
Fangen wir damit an. Ok?
11 Kommentare
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11. Februar 2019 um 16:29
Myriade
Nein, das müsste es alles nicht geben aber ach ……..
11. Februar 2019 um 17:22
Peter
Wann das angefangen hat, kann ich nicht sagen. Es hat aber damit angefangen, dass Abitur nur Kinder von wohlhabenden Menschen machen konnten. Das Dreigliedrige Schulsystem war 1920 ein Kompromiss mit den Konservativen, die ihre Kinder nicht mit Arbeiterkindern zusammen auf die Schule schicken wollten. Die Hauptschule und die Realschule WAREN Abwertungen gegenüber den Gymnasiasten. Kinder von Arbeitern sollten Arbeiter werden. Kinder von Angestellten sollten Angestellte werden. Kinder von Beamten und Wohlhabenden sollten Beamte und Wohlhabende werden.
Während andere Länder in den 1940er, 50er, 60er Jahren auf die Gemeinschaftsschule umgestellt haben, wussten die Nazis das zu verhindern und danach wollten alle erst einmal möglichst nichts ändern. In Schleswig-Holstein ist sogar die 6-jährige Grundschule an CDU und BHE gescheitert.
Erst seit den 1970ern gibt es Versuche, Gemeinschaftsschulen einzuführen, an denen die Kinder aus sich das machen können, was in ihnen steckt. Weil genügend Eltern da keinen Bock drauf haben, hat man dafür gesorgt, dass die bestehenden Gymnasien sich für Arbeiterkinder öffnen müssen.
Ja. Dahinter stand der Anspruch, dass jeder der es kann, das Abitur machen sollte. Jeder der dann will sollte studieren. Wahrgenommen wir das oft als „jeder soll Abi machen und studieren“ – das ist natürlich Unsinn.
Aber natürlich hat man mehr Möglichkeiten mit Abi. Und ich kann Eltern verstehen, die ihren Kindern alle Möglichkeiten eröffnen wollen, die es gibt.
Ein Freund von mir, ist mit der Fachhochschulreife, ein Jahr vor dem Abi, von der Schule abgegangen und der hat sich hinterher sehr geärgert, dass er eben nicht studieren konnte, was er wollte. Fachhochschulen bieten nun einmal nicht alles an.
Die aktuelle Situation ist so eine Mischung aus all dem: Einem teilweise immer noch 100 Jahre alten Schulsystem. Eltern, die am Alten hängen. Eltern, die es ändern wollen. Politiker, die am Alten hängen und Politiker, die es ändern wollen. Hier Gemeinschaftsschulen, dort Gymnasien. Eltern, die das Beste für ihre Kinder wollen – oder die ihnen das Beste zumindest nicht verwehren wollen, weil sie nicht genug getan haben.
Ich fänd gut, wenn es eine Schule für alle Kinder gebe. Eine Schule, in der Basis der Arbeit ist, dass man zu Anfang die wichtigsten Sachen lernt: Lesen, Schreiben, Rechnen. Und dass man die so lange lernt, bis man sie wirklich kann. Und wenn man sie wirklich kann, erst dann kommt das nächste Thema. Für jedes Kind individuell. Irgendwann sagt man: Jetzt bist Du fertig mit der Schule. Du kannst jetzt einen Beruf lernen oder studieren. Und wer Bäcker werden soll, möge das ausprobieren, ob das etwas für ihn ist und ob er das schafft. Und wer Mechatroniker werden will, soll das ausprobieren und schauen, ob er das schafft. Und wer studieren will, soll das ausprobieren und schauen, ob er das schafft.
Die Schule muss jedes Kind in die Lage versetzen, sich selbst und seine Fähigkeiten einzuschätzen. Ein Bildungssystem, das Menschen vom Weiterlernen abhält, weil dieser oder jener Abschluss nicht da ist, hält die Menschen davon ab, sich zu entwickeln. Wenn ein ehemaliger Ministerpräsident nicht studieren darf, weil er kein Abitur hat, dann ist das Unsinn. Das Gleiche gilt aber auch für jedes Kind.
14. Februar 2019 um 12:21
Hermann aus Bremen ⚓ (@hermann4000)
Ganz einfach: mit Haare flechten, Zeichnen und Singen sind die Berufs- und Einkommensperspektiven in Deutschland eher bescheiden. In der Wirtschaftsform, in der wir leben, werden nur sehr spezifische Fertigkeiten und Fähigkeiten mit einem mindestens auskömmlichen Einkommen belohnt. Kein Elternteil möchte, dass sein oder ihr Kind später Niedriglöhner wird. Und was man als Elternteil dafür tun kann ist nunmal, dem Kind den Abschluss zu verschaffen, mit dem die Niedriglohn-Wahrscheinlichkeit so gering wie möglich ist. Wann hat das also angefangen? Das hat angefangen, als… Gerhard Schröder und Tony Blair den Niedriglohnsektor in Europa in den frühen 00er-Jahren so nach vorne gebracht haben. War auf jeden Fall ein wichtiger Baustein zur Bildungsabschlussentwertungsspirale.
14. Februar 2019 um 16:21
Rosi
ich gebe zu
ich habe meine 5 Kinder auch auf das Gymnasium geschickt
auch gegen die Schulempfehlung
ich wollte dass ihnen alle Wege offen stehen
denn mit Reichtümern können wir ihnen nicht dienen
allerdings habe ich nie Druck ausgeübt
und als mein Jüngeste ein Jahr vor Abitur hinwarf war ich zwar nicht glücklich aber sie 😉
sie ging dann auf eine Berufsfachschule und hat in Informatik einen der besten Abschlüsse gemacht (bei fast nur Jungs )
es wäre wirklich schön ..aber bleibt sicher Utopie
wenn alle Kinder zusammen lernen könnten nach ihren Fähigkeiten
bis zu einem geeigneten Abschluss
doch da braucht es wohl viel mehr Mittel und Lehrkräfte
kleine Lerneinheiten
ganz schlimm finde ich wenn Eltern den Ehrgeiz entwickeln
dass ihre Kinder die Besten sein sollen
(auch wenn die es gar nicht können )
ich finde ihre Beiträge hier im Blog sehr gut
und ich denke sie sind eine tolle Lehrerin
darn mangelt es ja auch oft und führt dazu dass Kinder die Lust am Lernen verlieren
liebe Grüße
Rosi
26. Februar 2019 um 10:17
Wolfram D.
Ich denke, dass Schule schon sehr lange ein versagendes System war und ist. Nur ist das eben noch hinzugekommen, das mit dem „Abitur müssen alle“.
Wenn ein Amoklauf passiert, dann reden alle wieder über Ballerspiele. Als vor ein paar Jahren in Winnenden dieser schreckliche Vorfall passierte, fragte ich mich allerdings: Wieso ging der Täter zurück in die Schule für seinen Amoklauf, wo er den Abschluss doch schon hatte? Er hätte auch in einen Supermarkt gehen können.
Bei mir selbst hat das Gymnasium vor allem bewirkt, dass ich täglich erfahren habe, was ich nicht kann. Ich hätte ein Überflieger sein können von der Intelligenz her, aber das System hat es mir nicht erlaubt. Diese Erfahrung, 10 Jahre lang (jaja, Klasse wiederholt und so), prägen mich und mein Selbstwertgefühl bis heute, fast 20 Jahre nach dem Abitur.
Der pädagogische Grundsatz „abholen wo sie stehen“ und jedem nach seinen Möglichkeiten Wissen mitzugeben und auch individuell Erfolg rückmelden, wenn jemand sich angestrengt hat, das fand damals nicht statt und ich denke heute findet es auch nicht mehr als damals statt. Dabei wäre es so wichtig, dass junge Menschen sich selbst positiv erleben können.
19. März 2019 um 00:00
Anonym
Ich hab‘ das Gymnasium ein Jahr vor dem Abi geschmissen. Meine drei Kinder haben es mir ziemlich gleich getan. Darob ist mir nicht bang‘ um sie. Kein bisschen.
19. März 2019 um 07:28
puentanell
Es gibt da eine mangelnde Durchlässigkeit an den Schulen in Deutschland: Wenn man nicht von Anfang an aufs Gymnasium geht, dann ist es unendlich schwer, später noch das Abitur zu machen. Die Hürden sind zu hoch. Deshalb würde ich sehr darauf achten, dass mein Kind dann auf jeden Fall erstmal aufs Gymnasium geht und später „runter“ wechselt.
19. März 2019 um 08:29
Ann-Kristin Göthert
Danke
20. März 2019 um 08:01
Anonym
Ich möchte noch ergänzen, dass das Abitur überschätzt wird. Total.
20. März 2019 um 12:06
Mein beruflicher Werdegang – MoMe – Monika Meurer
[…] Abiturzeugnis wollte schon lange keiner mehr sehen. Und nach meinem Studium fragt auch niemand. Trotzdem ist unser Auftragsbuch für 2019 schon sehr […]
22. März 2019 um 20:12
Peter M.
Das muss sich irgendwann in den letzten 40 Jahren verschoben haben. 1979 konnte ich ganz problemlos mit guter mittlerer Reife einen kaufmännischen Ausbildungsplatz in einem großen Industriebetrieb bekommen, und alle meine mit-Azubis hatten auch „nur“ mittlere Reife. Heute ist das kaum möglich, es ist meistens Abitur erforderlich, um die Ausbildung als Industriekaufmann/frau anzutreten. Dabei hat sich das Berufsbild nicht stark geändert. Heute ist halt IT wichtig – aber das haben die meisten heutigen Jugendlichen eh gut drauf.
Ich bin meinen Eltern dankbar, dass sie mich „damals“ nicht aufs Gymnasium gezwungen haben, obwohl ich von der Schule eine klare Empfehlung hatte. Ich wollte damals unbedingt endlich loslegen, endlich etwas praktisches machen, nicht noch weitere drei Jahre büffeln. Und ich bereue es nicht. „Nur mittlere Reife“ ist auch kein Karrierekiller. Ich wurde schon lange nicht mehr gefragt, ob ich studiert habe oder nur einen Baumschulabschluß 🙂 habe. Irgendwann ist das uninteressant. Dann interessiert nur noch die Performance im Job.