Und es wird mal wieder Zeit. Zeit, von meiner Arbeit zu berichten. Zeit, darüber zu schreiben, was vielen Menschen nicht bewusst ist. Zeit, Menschen in den Fokus zu rücken, die gerade die Zeit ihres Lebens haben: ihre schlimmste.

Diese jungen Menschen waren im jetzt vergangenen Schuljahr wieder Basis meiner Arbeit als Lehrerin an einer Krankenhausschule in der Kinder-und Jugendpsychiatrie. Sie waren Basis, meine Aufgabe, meine Bereicherung. Ich habe gezählt: 192 schwer erkrankte Kinder und Jugendliche waren im Laufe des Jahres in meinem Unterricht, weil sie sich auf der Intensivstation befanden. Diese Station ist der geschützte Bereich. Geschützt deshalb, weil diese jungen Leute entweder selbst- oder fremdgefährdet oder auch beides sind. Ihr Leben hat einen Verlauf genommen, der schliesslich in die Räume der Klinik mündete. Durch Krankheiten, durch Drogen, Gewalt, Traurigkeit. Und durch Lebensüberdruss.

Was mir aus diesem Schuljahr besonders in Erinnerung bleiben wird, das sind die Mädchen. Noch nie waren in meiner Klasse so viele 12- oder 13jährige Mädchen, die das Leben schon von Seiten gesehen haben, die für sie nicht bestimmt sind. Wilde Mädchen sind das. Laut, respektlos. Gewaltbereit. Ängstlich. Verletzend. Sich selbst und andere. Sie scheinen sich verloren zu haben. Keine Regel ist vor ihnen sicher. Keine Schule verschont durch ihre Alkoholexzesse. Ja, 12 und 13 Jahre alt. Als ich mit einer Heimatschullehrerin telefonierte und sagte, die Schülerin berichtet, sie hätte im Klassenraum geraucht, da antwortete die Lehrerin: ja, wenn sie nur das gemacht hätte, wären wir alle zufrieden gewesen.

Diese Mädchen haben alle etwas gemeinsam: schenkt man ihnen Aufmerksamkeit und mehrere Chancen, da werden sie hellhörig. Fast wach. Ihr Blick wird konstanter, die Ansprache aufrechter. Und 30 Minuten später ist alles vergessen. Immer wieder von vorne. Immer wieder aufs Neue.

Ich frage mich, wie es mit diesen Mädchen weiter geht. Meine Hoffnung, dass kleine Momente der Freude und des Erfolgs im Unterricht ein Punkt auf ihrer lebensbejahenden Seite bedeutet, die mag naiv klingen. Sie ist aber das, was mich meine Arbeit mit diesen Menschen mit Freude machen lässt. Ohne sie wäre ich nicht dort: ohne die Hoffnung, dass kleine Sequenzen fürs Leben zählen, da käme ich nicht weit.

Schon gar nicht, wenn die gesamte Station, auf der ich arbeite, nicht so offen, loyal, respekt- und humorvoll wäre. Heute, am letzten Schultag, da wurde mir nochmals bewusst, dass gute Arbeit nur im Team funktioniert. Und das tut es. Was für ein Glück!

Neben den wilden Mädchen sind es auch die jungen Menschen mit Psychosen, an die ich mich erinnern werde. Aus dem Leben gerissen, in eine andere Welt hinein und nur mühsam und extrem langsam da wieder raus finden: was für eine Aufgabe für Menschen, die eigentlich jung sein sollten. Vor Lebensenergie strotzen sollten. Aber diese Mädchen und Jungen müssen ganz von vorne anfangen: Schule beginnt meistens mit 15 Minuten. Danach sind sie erschöpft. Es ist grossartig, wie mutig diese Menschen sind, sich auf den Heilungsprozess einzulassen. Durch Medikamente sind sie verlangsamt. Ihre Kräfte schwinden, sie sprechen undeutlich. Und trotzdem nehmen sie am Leben teil. Besuchen meinen Unterricht und versuchen das Beste. Vor ihnen ziehe ich auch meinen Hut.

192 Lebensgeschichten habe ich im vergangenen Schuljahr übergeben bekommen, bei denen mir manchmal alleine durchs Hören schon schlecht wurde. Morgens früh um kurz nach Acht. Um verstehen zu können, warum die Schüler*innen so sind, wie sie sind. Um sie abholen zu können. Um mit ihnen weiter zu gehen.

Und jetzt wird es mal wieder Zeit. Zeit in die Ferien zu gehen und abzuschalten.

Ich freue mich auf das nächste Schuljahr.