Und was er plötzlich kann, dieser Junge. Dieser Junge, der in keiner Klasse sein kann. Der auffällt durch Unruhe, körperlich und verbal. Anteile von Tourette, Tics und Zwänge machen ihm und den Mitschüler*innen einen gemeinsamen Unterricht unmöglich. Der Leidensdruck ist enorm. Seine sozialen Kontakte bestehen meist aus Ablehnung, Auslachen, Nachäffen und Beschimpfungen. Dabei kann er doch nicht anders.
Immer wieder probierte ich es in verschiedenen Klassenzusammenstellungen, ihn in einem gemeinsamen Unterricht zu beteiligen. Immer wieder mussten wir das Projekt abbrechen. „War klar, immer bin ich es. Immer schaffe ich es nicht.“ Auch an der Heimatschule sieht es nicht anders aus: Kurzzeitbeschulung bis hin zum Aussetzen des Unterrichts für ihn.
Bei mir in der Klinikschule in der Kinder- und Jugendpsychiatrie hat er nun eine Möglichkeit entdeckt, zu lernen. Sich zu konzentrieren, Gespräche zu führen, die Zusammenhang haben und Wirkung zeigen. In der vergangenen Woche plante ich, die Unterrichtsdauer auf 45 Minuten zu setzen. Einzelbeschulung. Zunächst mit Aufgabenblättern und Stift. Da konnte er sich über einen kurzen Moment fokussieren. Konnte sich mit den Lerninhalten auseinandersetzen. Aber eben nur kurz. Nach 15 Minuten war die Ausdauer aufgebraucht. Er ging zurück auf die Station. Mit gesenktem Kopf.
Der nächste Versuch bestand am folgenden Tag darin, die Arbeitsblätter auf das iPad zu scannen und ihn digital arbeiten zu lassen. Mit iPad und Pencil. Die Deutschaufgabe schickte ich ihm per Airdrop zu. Zeigte ihm, wie das Procedere dabei ist. Und dann fing er an zu arbeiten. In Stille. In Ruhe. Mit Konzentration und Interesse. Kein Wort von ihm. Bis er die Blätter fertig bearbeitet hatte und sagte: „Frau Knixibix, bereit?“
Seine Unterlagen kamen auf meinem iPad an, ich las sie Korrektur und übersandte ihm sein Ergebnis. Wie glücklich er war, dass er es geschafft hatte, sich ohne Tic und Zwangshandlung, ohne Kreischen und Juchzen einem Schulthema zu widmen. Das war beeindruckend. Galt er bis dahin bei Ärzt*innen und Pädagog*innen als äusserst schwierig, kaum führbar und anstrengend. Diese Arbeitsweise und damit auch er hat uns allen gezeigt, dass es da noch was gibt, was in ihm schlummert. Was zukunftsweisend für ihn sein kann.
Und vielleicht ist das ja eine Chance. Weil er plötzlich etwas kann.
1 Kommentar
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29. September 2019 um 17:56
kaethemargarethe
Irgendwie und mit mehrfach Sitzenbleiben bin ich vor langer Zeit zum Abi gekommen auf einem „normalen“Gymnasium. Gebraucht hätte ich Menschen, die sich fragen, woran es hakt und bereit mit mir andere Wege zu finden. So freue ich mich mit Euch.